Bezeichnungen in der chinesischen Kampfkunst

Basics, Kultur & Geschichte
Von
Pascal Wu
Datum
22.07.2025
Lesezeit
4 minutes
In der Kampfkunst gibt es keine einfachen „Du’s“ und „Sie’s“. Wer den Weg geht, wird Teil einer Familie – mit einer eigenen Sprache, in der Sihing, Sije, Sifu und Sitai nicht nur Titel, sondern Ausdruck von Respekt, Zugehörigkeit und Verantwortung sind. Hier erfährst du mehr über die Bezeichnungen in der chinesischen Kampfkunst und was sie…

In der Kampfkunst gibt es keine einfachen „Du’s“ und „Sie’s“. Wer den Weg geht, wird Teil einer Familie – mit einer eigenen Sprache, in der Sihing, Sije, Sifu und Sitai nicht nur Titel, sondern Ausdruck von Respekt, Zugehörigkeit und Verantwortung sind. Hier erfährst du mehr über die Bezeichnungen in der chinesischen Kampfkunst und was sie bedeuten.

Wer neu in eine Kungfu-Schule kommt, wundert sich vielleicht über die Begriffe, die dort verwendet werden. Warum sagt jemand „Sihing“ statt einfach „der da“? Wer ist denn “Sitai”? Und was bedeutet überhaupt „Toudai“?

Die Antwort ist tief verwurzelt in der Kultur: Die Kampfkunst ist ein Weg. Und wer diesen Weg gemeinsam geht, wird zur Familie.

Ansprache in asiatischen Kulturen

In vielen asiatischen Sprachen – etwa im Koreanischen, Chinesischen oder Japanischen – ist die Art, wie man jemanden anspricht, Ausdruck von Respekt, Rang und Nähe.

Man unterscheidet dabei nicht nur zwischen formell und informell, sondern auch nach Alter, sozialem Status oder Beziehungsebene.

Im Chinesischen gibt es ähnliche Feinheiten – und sie haben über die Jahrhunderte auch die Kampfkunst-Traditionen geprägt.

Anders als im Deutschen, wo „Du“ oder „Sie“ oft ausreichen, gibt es in der Kampfkunst besondere Titel und Anreden, die nicht zufällig gewählt sind. Sie zeigen, wer welchen Platz in der Linie hat – ganz unabhängig vom tatsächlichen Alter.


Die Kampfkunst-Familie – mehr als eine Metapher

In traditionellen Schulen war das Verhältnis zwischen Schüler und Meister eng – oft enger als zu den eigenen Eltern.

Früher lebten Schüler mitunter beim Lehrer, halfen im Haushalt, wurden mitversorgt. Kampfkunst wurde nicht „unterrichtet“, sie wurde weitergegebenhinter verschlossenen Türen, an Menschen, die sich dafür würdig erwiesen hatten.

Erst wer sich durch Disziplin, Haltung und Herz zeigte, durfte durch eine Baai-Si-Zeremonie offiziell Schüler werden.

Mit dieser Zeremonie wurde der Meister zum „Sifu“ – und seine Kampfkunstlinie zur zweiten Familie.

In dieser Familie gibt es – wie in jeder anderen – Verwandtschaftsgrade, die sich aus der Schülergeneration, der Zugehörigkeit zur Linie und der Position im Trainingssystem ergeben.


Dienstalter (Seniority) statt Alter

Wichtig ist: In der Kampfkunst zählt nicht dein Alter, sondern dein Dienstalter, auf Kantonesisch bui fan 輩份 (Mandarin: bèi fèn).

Das heißt: Wer vor dir angefangen hat, ist dir gegenüber in der Ansprache „älter“, auch wenn er oder sie biologisch jünger ist.

So kann es sein, dass ein 20-jähriger Kungfu-Schüler von einer 45-jährigen Anfängerin mit einem respektvollen Titel angesprochen wird.

Nicht aus Unterordnung – sondern aus Anerkennung für den eingeschlagenen Weg.


Die Kampfkunst-Geschwister

Innerhalb einer Schule spricht man sich wie Geschwister einer Familie an – aber mit differenzierten Titeln:

Sihing (師兄) – älterer Kungfu-Bruder

Size (師姐) – ältere Kungfu-Schwester

Sidai (師弟) – jüngerer Kungfu-Bruder

Simui (師妹) – jüngere Kungfu-Schwester

All diese Begriffe für Personen aus deiner Kampfkunst-Familie haben aber eines gemeinsam: Konsequent wird das Zeichen 師 (Si) vor der Bezeichnung gesetzt. Sinngemäß lässt sich der Begriff als „Lehr-„ ins Deutsche übersetzen. Man nennt Personen aus der Kampfkunst-Familie also bspw. Lehrbruder oder Lehrschwester.

Diese Titel drücken Respekt, Zugehörigkeit und auch Verantwortung aus. Ein Sihing ist oft Mentor für Jüngere, aber kein „Chef“. Er oder sie hat einfach früher angefangen – und damit eine Vorbildfunktion innerhalb der Gruppe.

Bezeichnungen in der Kampfkunst Grafiken Geschwister


Der Sifu – mehr als ein Lehrer

„Sifu“ (師父) bedeutet wörtlich „Lehr-Vater“ – und dieser Begriff ist bewusst gewählt.

Ein Sifu ist nicht nur Trainer oder Ausbilder. Er (oder sie) trägt die Linie, die Werte, das Wissen – und gibt sie an die nächste Generation weiter.

Wer offiziell zum Sifu ernannt wird, übernimmt Verantwortung für Schüler, nicht nur für Techniken.

Die Schüler wiederum heißen dann:

Toudai (徒弟) – offizieller Schüler (nach der Baai-Si-Zeremonie)

Hoksang (學生) – allgemeiner Schüler, noch nicht „hinter der Tür“ aufgenommen


Die Linie weiterdenken: Großmeister, Sitai, Sigung

Wie in einer echten Familie gibt es auch in der Kampfkunst höhere Generationen.

Der Lehrer deines Lehrers ist dann z. B. dein:

Sigung (師公) – „Lehr-Großvater“

Sitai (師太) – „Lehr-Großmutter“

Je nachdem, wer die Linie hält, können auch weibliche Meisterinnen als Sifu angesprochen werden.

Hier wird nicht nach Geschlecht, sondern nach Generation und Verantwortung unterschieden.

Bezeichnungen Baumdiagramm v2

Die Ansprache ist Ausdruck von Respekt – nicht von Hierarchie

In der Wushu-Familie geht es nicht um starre Titel oder Machtverhältnisse. Es geht darum, sich bewusst einzuordnen, Verantwortung anzuerkennen – und den Menschen vor dir mit Respekt zu begegnen.

Wer sich dieser Kultur öffnet, merkt schnell: Die Bezeichnungen schaffen nicht Distanz, sondern Verbindung. Sie zeigen, dass du Teil von etwas bist, das größer ist als du selbst – aber nicht ohne dich existieren kann.

Tipp:

Lies auch unseren Beitrag Was es wirklich heißt, ein Sifu zu sein – mit mehr Einblick in die Rolle, Verantwortung und Bedeutung dieses Titels.

Über den Author

Pascal Wu

Pascal Wu leitet gemeinsam mit Christina Wu die Wushu Taichi Akademie und blickt auf knapp 30 Jahre Kampfkunst-Erfahrung zurück. Nach zahlreichen erfolgreichen Turnieren im modernen Sport-Wushu wandte er sich wieder dem traditionellen Kungfu zu. Sein Ziel ist die Weiterentwicklung der chinesischen Kampfkünste und die korrekte Vermittlung von praktischem Kungfu.

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