Einstiegs-Faustform Yap Mun Kuen

Basics, Familie Wu
Pascal Wu macht Yap Mun Kuen
Von
Martin Rüttenauer
Datum
08.08.2019
Lesezeit
7 minutes
Ein Meisterwerk an Kompaktheit und Prägnanz ist die Süd-Shaolin-Form Yap Mun Kuen/Jap Mun Kyun (入門拳). Mitte der 1980er Jahre ist diese kleine aber feine Kungfu-Faust-Form bekannt geworden. Sie hat in wenigen Jahren Freunde auf der ganzen Welt gefunden.
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Traditionelle Hintergründe

Dabei ist die Yap Mun Kuen unter verschiedenen Bezeichnungen verbreitet worden. Mal wurde sie einfach als Süd-Shaolin-Form bezeichnet, mal korrekter als Einführungsform der Familie Wu, und es finden sich im Netz auch recht sinnfreie chinesisch-klingende Namen für diese Form.

Wie die YAP MUN KUEN entstanden ist, erzählen wir hier.

Wu Shaoquan (1909-1967, kantonesisch Ng Siu Tsuen 吳少泉), Vater von Wu Mei Ling (kant. Ng Mei Ling 吳美玲), war zusammen mit seiner Frau Xiao Yanzhen (1923-2012, kant. Siu Yin Zan 蕭燕珍) ein maßgeblicher Kungfu-Lehrer in der Provinz Guangdong in der ersten Hälfte der 1900er Jahre.

Wu Shaoquans Kungfu stammte in direkter Linie von dem legendären Huang Fei Hong (1847-1925, kant. Wong Fei Hung, 黃飛鴻), der maßgeblich zur Verbreitung des Hung-Gar-Kungfu/Hung Kuen/Hung Kyun (洪家功夫) beigetragen hat. Dessen Schüler Lin Shi Rong (1860-1943, kant. Lam Sai Wing 林世榮) war ein bedeutender Lehrer für Wu Shaoquan. Wenn Du gerne mehr über Großvater und den Stammbaum der Familie Wu erfahren möchtest, kannst Du Dir den Artikel „Hung Kuen der Familie Wu“ durchlesen.

Die klassischen Formen des Hung-Gar-Kungfu (mandarin Hong Jia Gongfu 洪家功夫) gelten als ausgefeilt und voller Tiefgang. Genannt seien hier die Gung Zi Fok Fu Kuen (工字伏虎拳), die Fu Hok Seung Ying Kuen (虎鶴雙形拳, die Tiger-Kranich-Form) und die Tit Sin Kuen (鐵線拳, die Eiserner-Faden-Form). Diese Formen zeigen hervorragend die Vielfalt der subtilen und zugleich kraftvollen Hung-Gar-Techniken. Ungeachtet ihrer Länge wurden sie an alle Schüler unterrichtet. Anfänger begannen mit der Gung Zi Fok Fu Kuen und lernten mit asiatischer Disziplin und Hingabe so die Grundlagen des Hung-Gar-Kungfu.

Entstehung der Form „Yap Mun Kuen“

Wu Mei Ling war 1986 nach Konstanz an den Bodensee gekommen und hatte mit Martin Rüttenauer die Deutsch-Chinesische Wushu Akademie (seit 2012: Wushu Taichi Akademie) aufgebaut. Seit 1987 führten die beiden auch China-Reisen für ihre Schüler und für Externe aus mehreren Ländern Europas durch. Die Reisen beinhalteten einen intensiven Trainingsteil. Trainiert wurde zum einen in den schönen Parks der Stadt Guangzhou (Kanton), inmitten der einheimischen Gruppen, die sich vor allem dem Taichi und dem Qigong widmeten. Das Training wurde fortgesetzt an den wunderschönen Stränden der damals noch einsamen Insel Hainan.

blog yap mun kuen Trainingsreise 85

Training mit Schülern im Guangzhou Park ca. 1987

Wu Mei Ling stand nun vor einer Herausforderung. Trotz der Intensität des Trainings reichte die Zeit nicht, den Schülern eine komplette Hung-Gar-Form beizubringen und ihnen auf diese Weise eine in sich abgeschlossene Form als Einstieg in das Hung-Gar-Kungfu bzw. in das überlieferte Kungfu der Familie Wu zu geben. Allein die Dan Gung Kuen (vordere Hälfte der Gung Zi Fok Fu Kuen), die Anfänger traditionell lernten, besteht aus mehr als fünfzig Übungen.

Wu Mei Ling entschied sich daher, eine Einführungsform neu zu entwickeln.

Was bedeutet „Yap Mun Kuen“?

Als Bezeichnung der Form wählte sie YAP MUN KUEN. Das bedeutet wörtlich Zur-Tür-Hereintreten-Faustform, im übertragenen Sinne Einführungsform. Die Yap Mun Kuen beinhaltet wichtiges Kungfu-Grundwissen. Wenn man diese Form gelernt hat, hat man einen Schritt über die Türschwelle getan – das bedeutet der Name dieser Form.

Die Bezeichnung Yap Mun Kuen ist Kantonesisch. Das ist eine südchinesische Sprache, die in der Provinz Guangdong und in Hong Kong gesprochen wird. Es ist eine sehr prägnante Sprache. Drei Silben, im richtigen Ton ausgesprochen, reichen aus, wofür wir im Deutschen eine recht lange Abfolge von Wörtern benötigen. Die südchinesischen Kungfu-Stile und deren Formen werden, ebenso wie die Meister, sinnvollerweise kantonesisch und nicht hochchinesisch-Mandarin bezeichnet. Wenn Mandarin sich eingebürgert hat, wie für Wu Mei Ling, dann bleiben wir hier bei dieser Bezeichnung.

Die Besonderheiten der „Yap Mun Kuen“

Tiger und Drache

Sifu Mei Lings Plan war, wesentliche Elemente des Hung-Gar-Kungfu zu verbinden mit Bewegungen aus zwei traditionellen Tierstilen – Tiger und Drache – die im Hung-Gar-Kungfu eine wichtige Rolle spielen. Ein guter Lehrer könnte dann mit einem begabten Schüler – für beide egal, ob männlich oder weiblich – aus der Form heraus ein tieferes Verständnis für das überlieferte Kungfu der Familie Wu entwickeln.

Zwei Teile

Die Form YAP MUN KUEN besteht aus zwei Teilen. Bei der Ausarbeitung des ersten Teils erhielt Wu Mei Ling Unterstützung von Huang Daxiong (gest. 2007, kant. Wong Dat Hung 黃達雄), Schüler ihres Vaters und selbst Lehrer von Sifu Mei Ling. Huang Daxiong war ein sehr vielseitiger, temperamentvoller Kungfu-Künstler, der später auch in Europa bekannt wurde. Nur die Besten sollten Wu Mei Ling bei der Entwicklung der Form beraten. Für den zweiten Teil stand ihr Wu Runjin (1954-2007, kant. Ng Jeon Gam 吳潤錦) zur Seite, ihr Bruder, den sie später nach Deutschland in ihre Akademie als Lehrer einlud. Mit seiner fundierten Fachkenntnis und seiner humorvollen Art gelang es dem Arzt und Kampfkunstlehrer Wu Runjin, in Deutschland und in der Schweiz einen großen und begeisterten Schülerkreis aufzubauen.

Die Yap Mun Kuen beginnt mit Bewegungen aus dem Hung-Gar-Kungfu. Nach den Vorstellungen der Traditionellen Chinesischen Medizin „lenkt man das Qi zu den inneren Organen“ und man konzentriert sich auf die innere Kraft; auch kleinere und ältere Praktizierende erhalten dadurch im Hung-Gar-Kungfu eine kraftvolle Ausstrahlung. Die Hüfte ist die Achse.

Der zweite Teil der Yap Mun Kuen hebt die Prinzipien des Öffnens und Aufrichtens hervor, zu jeder Bewegung gehört ein Tritt oder Schlag, die Geschwindigkeit wird schneller. Die Hüfte bewegt die vier Extremitäten.

So wurde von Sifu Wu Mei Ling eine Basis-Faustform entwickelt, deren Ablauf in überschaubarer Zeit erlernt werden kann und die Potential für tiefes Verständnis des Hung-Gar-Stils bietet.

Jeder Bewegung hat eine Anwendung

Für jede Übung aus der Yap Mun Kuen gibt es eine Anwendung, sowohl aus der Sicht eines Angreifers, als auch aus der Sicht eines Verteidigers. Die Anwendungen gelten als praxisnah. Es gibt Übungen für den Kampf auf kurze Distanz und für das Kämpfen mit weiten Bewegungen. Damit kann auch ein Anfänger die Grundlagen des Kungfu verstehen. Mehr zum Thema Formentraining und Anwendbarkeit findest Du im Artikel „Wieso Formentraining wichtig ist“.

Aspekte der Gesundheit

Auch vom gesundheitlichen Aspekt her ist die Yap Mun Kuen nach den Prinzipien der Traditionellen chinesischen Medizin wohldurchdacht. Das Blut kann gut zirkulieren. In kurzer Zeit wird der Körper warm. Die Yap Mun Kuen ist gesundheitsfördernd, besonders bei Kreislaufproblemen. Bei den Übungen hat die Hüfte die Funktion einer Achse und die Bewegungen werden mit der Atmung koordiniert. Dadurch wirkt die Yap Mun Kuen sehr gut auf die Organe, die mit der Atmung zu tun haben. Man stärkt nach der Theorie der TCM das Herz und die Lunge, ebenso die Funktion von Milz und Magen. Deshalb werden Knochen und Muskeln trainiert und man entwickelt gutes Gleichgewicht sowie Kraft in den Beinen. Wu Runjin fasste es in meisterhafter Kürze zusammen: „Man konzentriert sich und hat gute Laune“.

Wie die Urform der Yap Mun Kuen entstand

Die Idee zur Yap Mun Kuen entstand übrigens auf einer Karate-Reise. Wie das? Das kam so: Im März 1986 organisierte ich für den Deutschen Karate-Verband mit seinem Sportdirektor Peter Betz eine Asienreise für die Frauen-Karate-Nationalmannchaft. Mit dabei waren sechzehn junge Frauen, alle großartige Sportlerinnen, und der Bundestrainer Hideo Ochi. Nach einem Aufenthalt in Hong Kong reisten wir nach Guangzhou, der Heimatstadt von Sifu Wu Mei Ling. Dort hielten wir uns rund eine Woche auf und neben Besichtigungen und leckeren Banketten stand natürlich Training auf dem Programm. Ziel war es, einen Einblick in das südliche Wushu bzw. Kungfu zu erhalten, und das sollte Wu Mei Ling als Trainerin vermitteln. Die Karate-Sportlerinnen waren talentiert und routiniert und lernten rasch. Dennoch fand Mei Ling, daß die traditionellen Formen zu lang waren, um sie in der gegebenen Zeit in angemessener Tiefe zu unterrichten. Zusammen mit Huang Daxiong entwickelte sie daher eine kürzere Form für die Karate-Frauen. Diese Form kann mit Recht als Urform der Yap Mun Kuen angesehen werden.

Karate Tour Guangzhou 1986

Hintere Reihe, 2. von links: Wu Mei Ling
Mittlere Reihe mit dunkler Jacke: Hideo Ochi

Verbreitung der Yap Mun Kuen

In der Wushu Taichi Akademie in Konstanz wird die Yap Mun Kuen als Standardform unterrichtet. Nachdem einige der China-Reise-Teilnehmer aus den 80er und 90er Jahren die Form zu Hause weitergegeben haben (mal mehr mal weniger korrekt), kann man sagen, dass die Yap Mun Kuen seit vielen Jahren in Europa angekommen ist und ihren festen Platz in vielen Trainingsprogrammen gefunden hat.

Über den Author

Martin Rüttenauer

Dr. Martin Rüttenauer gründete 1986 gemeinsam mit Wu Mei Ling die Wushu Taichi Akademie in Konstanz. Als Sprachwissenschaftler, Philosoph und Kampfkunstbegeisterter hat er bereits 1982 die erste Reise zum Shaolin-Tempel in China unternommen, die erste Wushu-Tournee 1985 in Europa co-prodiziert und Europatourneen für den chinesischen Volkszirkus veranstaltet. „Ich gehe den Dingen gerne auf den Grund. Neben meiner Leidenschaft für das Taichi-Pushhands liegt mein Schwerpunkt auf Spezialreisen abseits der Standardrouten nach Süd-China, in die Wüste Gobi und nach Tibet.“

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