Manchmal beginnt eine Reise nicht mit einem Flugticket, sondern mit einer Frage. Einer dieser unscheinbaren, leisen Fragen, die sich langsam in das tägliche Tun hineinwebt. Wer sind wir – wirklich? Was ist es, das wir Tag für Tag weitergeben, wenn wir Bewegungen lehren, Haltungen korrigieren, Geschichten erzählen, ohne genau zu wissen, woher sie kommen? Was tragen wir in uns, das älter ist als wir selbst? Was bewegt uns, wenn wir Kungfu üben – und was bewegt es in uns?
Als wir 2012 zum ersten Mal aufbrachen, war es kein großer Entschluss. Es war keine bewusste Entscheidung, kein geplanter Aufbruch mit Zielen und Erwartungen. Es war vielmehr ein inneres Ziehen. Eine stille Ahnung. Ein leises „Da ist noch etwas.“ Die Linie, in der wir trainieren, lehren, leben – sie war immer spürbar gewesen. Sie schwang mit in den Bewegungen, in der Art, wie der Körper sich erinnerte. Sie lag zwischen den Worten, in den Blicken der Älteren, im Klang der Sprache, im Gewicht des Schweigens. Und doch hatte sie für uns kein Gesicht. Kein Bild. Keine Orte, an denen wir sagen konnten: „Hier begann es.“ Wir wussten, dass etwas überliefert wurde. Aber wir wussten nicht, wer es überliefert hatte – und wie. Und so machten wir uns auf den Weg. Nicht, um etwas zu beweisen, sondern um zu verstehen. Nicht, um etwas zu kontrollieren, sondern um uns berühren zu lassen.
Was als private Reise begann, wurde mit der Zeit zu etwas Größerem. Schritt für Schritt entstand eine Bewegung – nicht nur geografisch, sondern innerlich. Eine Bewegung in beide Richtungen: nach innen und nach außen, in die Vergangenheit und zurück in die Gegenwart. Über vier Etappen – drei davon mit Schülerinnen, Freunden, Weggefährtinnen und Weggefährten – ist ein Raum gewachsen. Ein Raum aus Begegnungen, Geschichten, Erinnerungen, Widersprüchen, Tränen, Lachen und leisen Ahnungen. Wir haben Verwandte getroffen, die wir vorher nur vom Hörensagen kannten. Wir haben Meister befragt, deren Hände Formen trugen, die älter waren als unsere Sprache dafür. Wir haben gelernt. Nicht nur Techniken, sondern Zusammenhänge. Rituale. Herkunft. Und wir haben etwas gefunden, das wir vorher nicht benennen konnten: eine lebendige Linie. Eine, die nicht aufgeschrieben, nicht sortiert, nicht archiviert war – sondern getragen wurde. Von Menschen. Von Körpern. Von Stimmen. Von Erinnerungen, die manchmal nur ein Satz lang waren – und trotzdem alles veränderten.
Und genau hier liegt auch der Ursprung dieses Buches. Lange gab es nichts Schriftliches. Kein Dokument, keine zusammenhängende Darstellung dessen, woher wir kommen. All das Wissen lebte in Menschen. In einzelnen. In Körpern. In Gesprächen, die schnell verstummen konnten, wenn man sie nicht aufzeichnete. Wir begannen zu verstehen, wie fragil eine Tradition ist, wenn sie nicht dokumentiert wird. Wie viel verloren gehen kann, wenn etwas nur erzählt wird, aber nicht weitergeschrieben. Dieses Buch ist deshalb auch ein Versuch, genau das zu tun: nicht festzuhalten, sondern sichtbar zu machen. Nicht zu bewahren, indem wir einfrieren – sondern indem wir lebendig erinnern.
Dieses Buch ist kein Lehrbuch. Kein Handbuch für Formen oder Techniken. Es ist auch kein wissenschaftliches Werk. Es ist eine Erinnerung. Ein Dokument. Ein Dank. Eine Brücke. Es ist unser Versuch, zu erzählen, was wir erlebt haben – mit dem Herzen, mit dem Körper, mit offenen Augen und manchmal zitternden Händen. Es ist eine Sammlung von Momenten, die uns geprägt haben. Und es ist eine Einladung: an dich, der oder die dieses Buch in Händen hält, mitzugehen. Einen Schritt. Oder viele. Dorthin, wo alles begann – und wo noch lange nicht alles gesagt ist.
Willkommen auf dieser Reise zu den Wurzeln.
Sie beginnt mit einem Schritt – und geht weiter mit jedem, der sich an sie erinnert.