Unser Hung Kuen Projekt mit der Europäischen Wushu Föderation (EWuF)

Blickwinkel, Familie Wu
Pascal Wu bei Workshop in Moskau
Von
Pascal Wu
Datum
10.04.2019
Lesezeit
7 minutes
Ich sitze gerade auf der Zuschauertribüne der traditionellen europäischen Wushu Meisterschaften in Moskau. Es ist mein zweites Mal in Russland und ich konnte noch nicht mal Sightseeing gehen…

Wushu-Athleten sind keine Kampfkünstler

Es heißt zwar traditionelle Meisterschaften und es gibt auch überwiegend traditionelle Stile, aber von Tradition und richtiger Kampfkunst mit Bedeutung sehe ich, ehrlich gesagt, so gut wie nichts. Selbst wenn man noch nie eine Wushu/Kungfu Meisterschaft gesehen hat, solange man einmal die olympischen Spiele gesehen hat, kann man sich eine asiatische „Kampfkunst“-Variante davon gut vorstellen. Es ist Sport, keine Kampfkunst. Es sind Athleten, keine Kampfkünstler. Ich lasse das mit Absicht so stehen, weil sich jeder selbst denken kann wie viel das mit richtiger Tradition und Kampfkunst gemeinsam hat.

Ich schaue bei Kategorien wie Baji, Xingyi, Bagua, Chaquan usw. zu aber empfinde das gleiche Gefühl wie bei all den modernen Formen heutzutage: Unverständnis.

Die Formen, die hier gezeigt werden haben großteils nichts mit den Grundzügen eines Stils zu tun. Sie heißen nur noch „so und so“ und werden in die gleichnamigen Kategorien gepackt. Vieles was hier gezeigt wird, ist nur die äußere Schale, aber ohne einen festen Kern.

Jeder Stil hat grundlegende Prinzipien, einzigartige Elemente und Theorien welche diesen Stil ausmachen. Ich bezweifle, dass die Athleten hier diese Grundelemente begriffen haben und genau deshalb mangelt es an deren Ausführung.

Auf der einen Seite ist die Ausführung das offensichtliche, das sind z. B. Stellungen, Handtechniken, Haltungen usw. Die nicht so offensichtliche Ausführung ist die Struktur und der Bewegungsablauf einer Form. Wenn man die Grundzüge eines Stils nicht begriffen hat, kann man keine „Form“ konzipieren und erwarten, dass diese dem Stil gerecht wird.

Fehlendes Hintergrundwissen im Wushu

Das Problem eines Sports ist nämlich der Zwang konkurrenzfähig bleiben zu müssen. Da ein Sport bestimmte Bewertungskriterien hat, müssen Athleten also immer zusehen, wie sie möglichst mehr Punkte als die Konkurrenz bekommen. Und genau dann verschiebt sich der Fokus von stilgerechter Kampfkunst zu leerem, bedeutungslosen Sport.

Das ist genau das, was ich hier heute sehe, viele Formen ohne Substanz.

Was kann man also tun, um diesen Athleten zu helfen Formen stilgerechter zu lernen und auszuführen?

Man muss die richtigen Formen von Leuten konzipieren lassen, welche die Grundzüge der einzelnen Stile begriffen haben. Um das zu bewerkstelligen braucht es nicht nur Leute mit der richtigen Expertise sondern auch den richtigen Willen, um so ein Projekt zu realisieren.

Nun habe ich genug ausgeholt und auch ein bisschen meiner Verzweiflung Luft gemacht, welche sich heute in Moskau angestaut hat.

Kommen wir nun zu unserem Projekt, an dem wir schon seit mehreren Monaten arbeiten.

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Pascal Wu beim Hung Kuen Seminar auf der Kungfu-EM in Moskau 2019

Zurück zu den Wurzeln

Unser langjähriger Freund und Schüler Urs Krebs aus Bern arbeitet seit langer Zeit in diversen offiziellen Wushu Verbänden, vom Schweizer Verband, über europäischen bis hin zum internationalen Verband. Er hat viele Jahre in diesen Verbänden für das traditionelle Wushu/Kungfu gekämpft und viel Geduld mit sich gebracht die wir nie gehabt hätten. Nun gab es eine Initiative der europäischen Föderation, neue Pflichtformen für die modernen Kategorien zu konzipieren, welche sich aber an traditionellen Stilen orientieren. Dadurch versucht man den Sport wieder einen Schritt näher zu seinen Wurzeln zu bringen. Gleichzeitig verhindert man, dass sich der Sport komplett von Tradition und Geschichte trennt.

Urs‘ Aufgabe war es nun, den Bereich der südlichen Stile auszuarbeiten, spezifisch in Hung Kuen 洪拳 und Choy Lee Fut 蔡李佛.

Aus genau diesem Grund sitze ich zum zweiten Mal in drei Monaten im sogenannten Wushu Palast in Moskau.

Über das letzte Halbjahr 2018 habe ich gemeinsam mit Urs ein Programm mit potenziellen Hung Kuen Formen entwickelt, welche wir dem europäischen Verband vorgeschlagen haben. Es ging darum, neue Pflichtformen für die Kinderkategorien, Junioren bis 14 und Junioren bis 17 zu entwickeln. Wir haben uns aus einem breiten Spektrum des Hung Kuen bedient und nach langem überlegen folgende Formen ausgesucht:

Lau Gar Kuen 劉家拳

Diese ist eine weltweit verbreitete Einstiegsform der Familie Lam aus Hong Kong.

Fok Fu Kuen 伏虎拳

Oder auch Dan Gong Fok Fu Kuen (單工伏虎拳) ist die zweite Hälfte der weltweit bekannten Gung Ji Fok Fu Kuen (工字伏虎拳), einer der sogenannten drei Schätze des Hung Kuen.

Fu Hok Seung Ying Kuen 虎鶴雙形拳

Mitunter die berühmteste Hung Kuen Form weltweit und auch einer der drei Schätze des Hung Kuen.

Familienstile Wu und Lam

Wir haben nun drei Formen, welche gemeinsam einen wichtigen Teil des Hung Kuen abdecken. Aber jeder der sich mit traditionellen Stilen auskennt weiß, es gibt viele Familienstile in welchen die Ausführung und Struktur von ein und derselben Formen leicht variieren können.

Hierbei ist zu bemerken, dass es kein richtig oder falsch gibt (bis zu einem gewissen Grad natürlich). Mein Onkel und Sibak Wu Rungen (吳潤跟) betont dabei immer, „es gibt kein Original, sondern nur traditionelles!“.

Denn jeder dieser Familienstile hat eine Geschichte und führt Formen von Generation zu Generation fort. Dadurch dass Formen also zeitgleich an unterschiedlichen Orten weitergegeben (und weiterentwickelt) wurden, kann man nicht behaupten, dass es eine Originalversion gibt. Dies lässt sich auch gut Anhand von unserer Einstiegs-Form „Yap Mun Kuen“ erkennen. Mehr dazu erfahrt Ihr in dem dazugehörigen Artikel.

Mit diesem Hintergrund hat sich Urs dafür entschieden die beiden bekanntesten und für die Entwicklung des Hung Kuen bedeutsamsten Stränge hervorzuheben.  Hung Kuen nach der Familie Lam aus Hong Kong, welche die direkte Linie nach Lam Sai Wing (林世榮) verkörpert und weltweit am verbreitetsten ist und Hung Kuen nach der Familie Wu aus Guangzhou, welche die wichtigste Linie auf dem chinesischen Festland ist und massgeblich an der Entwicklung des ursprünglichen Nanquan nach der Kulturrevolution beteiligt war.

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Hung Kuen Seminar gemeinsam mit Urs Krebs und Veronika Partikova auf der Kungfu-EM in Moskau

Ein erster Schritt

Ich hatte also das Glück und die Ehre gemeinsam mit Urs an diesem Projekt zu arbeiten und ihn dabei zu unterstützen. Meine Unterstützung bestand darin, dass ich eine Turnierversion unserer Fu Hok Seong Ying Kuen (虎鶴雙形拳) der Familie Wu zusammengestellt habe und dazu noch eine komplett neue HungKuen Partnerform entwickelte. Diese könnt Ihr Euch direkt am Ende des Artikel anschauen.

Langsam schließt sich also der Kreis, denn wir kommen nun zurück zum Anfang dieses Artikels, wie man den Athleten dabei hilft stilgerechte Formen auszuführen. Es wurden glücklicherweise Spezialisten zusammengeführt die Ahnung von ihrem Fach haben. Sowohl aus Hung Kuen, Choy Lee Fut aber auch Xingyi und Bagua. Somit kann man nämlich garantieren, dass Formen konzipiert und zusammenstellt werden, welche den Grundzügen und Theorien eines Stiles entsprechen. Diese Formen sollen dann ab 2020 die Grundlage sein, auf denen die Athleten trainiert und bewertet werden.

Im Februar bin ich also das erste Mal nach Moskau gereist, um gemeinsam mit Urs und seinem Sohn Kenny Krebs unsere Hung Kuen Formen aufnehmen zu lassen. Diese Videoreihe soll die Lerngrundlage für Athleten sein. Zusätzlich wird die europäische Meisterschaft als Gelegenheit genutzt, um ein Seminar zu geben an dem die Schiedsrichter über Besonderheiten eines Stils unterrichtet werden.

Einsatz für den Sport Wushu

Nein, wir haben daran nicht das große Geld verdient. Aber es ging darum sich für den Sport einzusetzen, der sich aus der chinesischen Kampfkunst entwickelt hat und diesen wieder näher an seine Wurzeln zu bringen. Wir haben soviel getan wie uns möglich war. Nun kommt es darauf an, wie unser Projekt bei den Athleten aufgenommen wird und wie es in Zukunft umgesetzt wird.

Wir gehen hier aber nicht mit leeren Händen aus. Unabhängig wie dieses Vorhaben sich entwickelt, konnten wir die Gelegenheit nutzen und eine neue Hung Kuen Partnerform konzipieren welche ganz nach Tradition der Familie Wu sowohl Anwendung, Geschichte, Darstellung und Ausdruck miteinander verbindet. Aber das vertiefen wir gerne in einem eigenen Artikel nochmal 

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Über den Author

Pascal Wu

Pascal Wu leitet gemeinsam mit Christina Wu die Wushu Taichi Akademie und blickt auf knapp 30 Jahre Kampfkunst-Erfahrung zurück. Nach zahlreichen erfolgreichen Turnieren im modernen Sport-Wushu wandte er sich wieder dem traditionellen Kungfu zu. Sein Ziel ist die Weiterentwicklung der chinesischen Kampfkünste und die korrekte Vermittlung von praktischem Kungfu. Mit Christina Wu leitet Pascal das Endformat Designstudio. „Seit Generationen betreibt die Familie Wu in Guangdong und nun in Konstanz Kampfkunst und Gesundheitstraining. Ich fühle mich der Tradition verbunden und möchte diese Arbeit fortführen und weiterentwickeln. Wertigkeit und Beständigkeit sind die Leitlinien.“

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