2017 haben wir unser 30-jähriges Bestehen am Bodensee mit einem großen Fest gefeiert. Auf dem Fest gab es eine Besonderheit. Wir haben einen 8m langen Zeitstrahl gestaltet, auf dem wichtige Meilensteine unserer Akademie zu sehen waren. Dafür haben wir unglaublich viel Material zusammengetragen. Und viele Fotos gescannt. Mein Gott, so viele Fotos…
Und wir haben immer noch nicht alle Fotos digitalisiert. Wenn sich also jemand für ein Praktikum bewerben möchte, der weiß, welche Aufgabe zu erwarten ist. Im Mabou-Stand vor dem Scanner die restlichen Fotos einscannen.
Dieser Zeitstrahl war aber tatsächlich ein großes Highlight für unsere Schüler. Vieles war den Schülern gar nicht bekannt und es war wie eine Zeitreise durch über 30 ereignisvolle Jahre.
Über diesen Zeitstrahl möchte ich heute (noch) nicht schreiben, sondern diese Erinnerung zum Anlass nehmen, um über das Hung Kuen der Familie Wu zu schreiben. Denn dieser ist mindestens genauso interessant und vor allem ein wichtiges Stück Information, welches dabei hilft unsere Tradition und Kampfkunstlinie zu verstehen.
Wir verwenden die offizielle Umschrift für die kantonesische Sprache (Jyutping/JP). Ausnahmen sind Namen/Begriffe welche bereits unter einer anderen Umschrift bekannt geworden sind oder für die sich Mandarin-Chinesisch eingebürgert hat.
Hung Kuen der Familie Wu
Wir bezeichnen uns als eine Hung Kuen (洪拳/洪家拳) Schule nach Wong Fei Hung (黃飛鴻). Er war zwar nicht der Stilgründer, aber er hat maßgeblich dazu beigetragen wie sich der Stil bis heute weiterentwickelt hat. Deshalb bezeichnet man ihn meistens als erste Generation.
Im kantonesischen wird jemand nicht nur bspw. als „dritte Generation“, sondern „als dritte an vierte Generation vermittelnd“ (三傳四代 kant. Saam Cyun Sei Doi) bezeichnet. Das bedeutet, dass jemand „als dritte Generation die Kunst an die vierte vermittelt und weitergibt“. Kommt man aus einer Linie mit mehreren bekannten Meistern sollte man diese Bezeichnung idealerweise gemeinsam mit dem Namen der Ursprungs-Generation verbinden, um klarzustellen, welche Zählung nun gemeint ist. In meinem Fall wäre ich bspw. die 5. Generation nach Wong Fei Hung und natürlich auch die 4. Generation nach Lam Sai Wing (林世榮), Schüler von Wong Fei Hung.
Welche Bezeichnung benutzt wird, kommt auf den Kontext und das Umfeld an und hat vor allem in der traditionellen Kampfkunst einen sehr hohen Stellenwert. Durch einen kleinen Zählfehler entsteht ein Fauxpas der jemandem „das Gesicht verlieren lässt“. Man könnte sich unbeabsichtigt auf die gleiche Ebene wie ein anderer Meister oder sogar über ihn/sie stellen.
Kungfu-Stammbaum der Familie Wu
Über Wong Fei Hung gibt es bereits hunderte oder gar tausende Artikel, ähnlich viele auch über Lam Sai Wing. Beide dieser Meister haben etliche Schüler ausgebildet und somit das Hung Kuen sehr bekannt gemacht und dadurch weit in der Welt verbreitet. Sie sind natürlich nicht die einzigen bedeutsamen Figuren, aber wir werden im Laufe des Artikels auf genug Namen stoßen. Ich möchte mich dabei auf die wichtigsten Personen in unserer Erblinie konzentrieren, denn viele weitere Verbindungen werden in der Grafik dargestellt. Die folgende Grafik soll einen groben Überblick darüber geben, in welchem Kontext unsere Erblinie zu anderen steht. Da ich nur über unsere eigene Erblinie detailliert sprechen kann, werde ich mich nur bedingt in andere Erblinien vertiefen.
Kungfu Stammbaum der Familie Wu
An dieser Stelle möchte ich zusätzlich erläutern, dass im Falle der Familie Wu unser „Familien“-Stammbaum sehr ähnlich wie der „Kungfu“-Stammbaum ist. Das liegt nun mal daran, dass die Familie Wu die Kampfkunst in 5. Generation (2020) innerhalb der Familie weiterführt. Sonst wird, wie in anderen Erblinien üblich, ein Schüler vom Meister zum „Erben“ ernannt, zu dem vielleicht keine Blutsverwandtschaft besteht. So gesehen sind wir, im wahrsten Sinne, eine Kungfu-Familie. In diesem Teil des Stammbaums befasse ich mich mit den Personen, welche in unserer Schule am bekanntesten sind. In einem separaten Artikel werde ich vertieft auf andere Teile der Familie Wu eingehen, wie z. B. meinen Urgroßvater, Geschwister von Großvater und deren Nachfahren etc. Wie die Kampfkunst heutzutage in der Wushu Taichi Akademie fortgeführt wird werde ich an anderer Stelle genauer beschreiben.
Wu Shaoquan & Xiao Yanzhen
Sitai Xiao Yanzhen und Sigong Wu Shaoquan
Mein Großvater Sigung Wu Shaoquan (1909-1967 吳少泉 kant. Ng Siu Cyun) war Schüler von Lam Sai Wing (林世榮). Später hat mein Großvater mit der Erlaubnis seines Meisters seine eigene Schule eröffnet, die Kampfkunstschule der Familie Wu (吳氏武館 kant. Ng Si Mou Gun). Diese vier Schriftzeichen stehen auch auf der Holztafel am Eingang der Wushu Taichi Akademie. Obwohl die Kampfkunst unsere Familie bereits davor begleitet hat, ist hier der tatsächliche Start des Hung Kuen der Familie Wu.
Meine Großmutter Sitai Xiao Yanzhen (1923-2012 蕭燕珍 kant. Siu Yin Zan) hat auch von einem namhaften Meister gelernt: Dang Yi (鄧二 kant. Dang Yi), dem jüngeren eines berühmten Brüderpaares, der Brüder Dang. Dang Yi war seinerzeit bereits ein sehr progressiver Meister, würde man heute sagen. Denn unter seiner Leitung war meine Großmutter im ersten Löwentanz Team von Guangzhou, welches ausschließlich mit Frauen besetzt wurde. Beide meiner Großeltern haben also von renommierten Meistern gelernt und später ihre Kenntnisse in der eigenen Schule zusammengebracht.
Sitai Xiao Yanzhen mit ihren Schülern. Huang Daxiong vorne, zweiter v. r.
Die erste Schule in Guangzhou
Die erste Schule haben sie in Guangzhou, in der Wing Faat Gasse (永發新街 kant. Wing Faat San Gaai), eröffnet. Meine Großeltern haben gegen Ende 1949 auf der anderen Stadtseite in Xintang (新塘 kant. San Tong) eine weitere Schule eröffnet. Diese Schule hat später, noch vor der Kulturrevolution, der jüngere Bruder meines Großvaters Wu Can (吳燦 kant. Ng Caan) übernommen, damit dieser sie weiterführen konnte. Dessen Sohn leitet bis heute noch eine Medizinpraxis in Xintang und unterrichtet privat ein paar wenige, besonders interessierte Schüler. Ihn nenne ich Onkel Ming (吳潤明), ein kleiner Mann ohne Haare, etwas konservativ aber unglaublich stark. Irgendwie sind alle kleinen chinesischen Meister unglaublich stark…das liegt bestimmt am Tee.
Erste Wu Shi Wu Guan Schule in der Wing Faat San Gaai, Reisegruppe 2017
Bleiben wir zunächst auf dieser Ebene des Kungfu-Stammbaums. Neben meinen Großeltern gab es weitere namhafte Meister in Guangzhou. Viele von ihnen sind wegen der Kulturrevolution nach Hongkong geflohen, manche sind untergetaucht und leider sind zu viele im Chaos der Kulturrevolution ums Leben gekommen.
Wu Shaoquan mit seinen Schülern. Wu Rungen, Wu Mei Ling & Wu Wansong v. l.
Erstes orthopädisches Krankenhaus in Guangzhou
Sigung Wu Shaoquan war nicht nur ein Meisterschüler von Lam Sai Wing, sondern auch ein renommierter Arzt, der sich auf die Kunst des Knochenrichtens fokussierte. In seinen bisherigen Schulen und Praxen (Wing Faat Gasse und in Xintang) hat er seine Fachkenntnisse unter Beweis stellen können und gemeinsam mit seiner Frau Xiao Yanzhen viele, viele Patienten betreut. Zu einer Zeit in der ein Großteil der Nachbarschaft nicht die finanziellen Mittel hatte einen Arzt zu besuchen, waren meine Großeltern trotzdem hilfsbereit und haben alle Behandlungen durchgeführt und die nötige Medizin den Patienten bereitgestellt. Ihr Ruf eilte ihnen voraus, denn man nannte sie 義公 und 義婆 was grob übersetzt gerechte/faire Stiefgroßeltern bedeutet. Dieses findet Ihr ebenfalls im Stammbaum der Familie Wu wieder.
Nach der Rückkehr aus Xintang wurde Wu Shaoquan Gründungsmitglied eines orthopädischen Krankenhauses, eine der ersten zu der Zeit. Diese befand sich gegen 1959/1960 noch in der Jiefang Zhong Lu (解放中路), wo auch folgendes Foto entstand. Nach dem Umzug des Krankenhaus in die Huifu Zhong Lu (惠福中路) ging Wu Shaoquan langsam in Rente. Danach wurde das Krankenhaus erweitert und ist zum heutigen Standort in der Dongfeng Zhong Lu (東風中路) umgezogen, in welcher es nun auch den offiziellen Namen des orthopädischen Krankenhauses von Guangzhou (廣州正骨醫院) erhalten hat.
Wu Shaoquan (zweiter v. l.) mit Arztkollegen
Bekannte Kampfkunst-Kollegen
Ein Kampfkunst-Bruder (師兄弟 kant. Sihingdai) meines Großvaters war Lau Zaam (劉湛), ein weithin bekannter Kampfkünstler. Gemeinsam haben sie das Hung Kuen in Kanton/Guangzhou stark geprägt. Eine der Besonderheiten aus ihrer Generation ist die Unterscheidung zwischen „altem Hung Kuen“ und „neuem Hung Kuen“. Das „alte Hung Kuen“ war in der Ausführung langsamer, bodennäher, kleiner und konzentrierte sich überwiegend auf kurze bis mittellange Armtechniken. Großvater sah gemeinsam mit seinen Kampfkunst-Freunden die Notwendigkeit, das Hung Kuen weiterzuentwickeln und an seine Zeit anzupassen. Die Beinarbeit wurde flexibler, dadurch die Ausführung schneller und außerdem wurden Bewegungen größer, da lange Armtechniken hinzukamen.
Diesen Abschnitt des Hung Kuen nannten sie deshalb „neues Hung Kuen“ und haben einen besonderen Gruß am Anfang ihrer Formen hinzugefügt. Diese beiden Bewegungen sind „Ohne Vorfahren gibt es keine Nachfahren“ (承前啟後 kant. Sing Cin Kai Hau) und „der weiße Kranich öffnet seine Flügel“ (白鹤亮翅 kant. Bak Hok Leong Ci). Die erste Bewegung verdeutlicht, dass nur auf Basis des alten Wissens eine Weiterentwicklung stattfinden kann, deshalb sollte man dem alten Wissen seinen Respekt erweisen.
Lau Zaam war nach der Kulturrevolution in Hongkong aktiv und hat dort das Hung Kuen sehr stark verbreitet. Nicht zuletzt aber auch sein Sohn Lau Gar Leung (劉家良), der gefühlt in fast allen guten Kungfu-Filmen zu sehen war. Er ist übrigens auch der Mentor des sog. „Drachentrios“ Jackie Chan, Sammo Hung und Yuen Biao gewesen.
Der von Großvater und Lau Zaam gemeinsam entwickelte Anfang ist deshalb in vielen Choreografien der alten Lau Gar Leung Filme zu sehen.
Bewegungen Sing Cin Kai Hau (links) und Bak Hok Leong Ci (rechts)
Weitere Einflüsse
Großvater hatte aber nicht nur zu anderen Hung Kuen Meistern, sondern auch Meistern aus anderen Stilen tiefe Freundschaften geschlossen. Zu seiner Zeit gab es immer einen freundschaftlichen Austausch und deshalb gibt es in manchen Formen unter anderem auch Einflüsse von bspw. Choy Lee Fut (蔡李佛). Teils wurden sogar ganze Formen aus anderen Stilen mit in unser Trainings-Programm aufgenommen. Ein typisches Beispiel ist hier die Sei Ping Kuen (四平拳), welche wir oft in unserem jährlichen Trainingslager in Saanen trainieren und unterrichten.
Wu Mei Ling & Huang Daxiong
Wu Mei Ling (r. h.), Huang Daxiong (r. v.), Wu Runjin (l. h.)
Bis zu diesem Abschnitt ist vieles noch vor der Kulturrevolution geschehen. Mein Großvater ist leider in den Wirren der Kulturrevolution gestorben, alle Kampfkunstschulen wurden zwangsweise geschlossen und chinesische Kampfkunst durfte unter keinen Umständen weiterhin praktiziert werden. Das Wissen, das wir heute zusammentragen können, auch die Formen, welche wir heutzutage trainieren, sind nur erhalten geblieben, weil meine Mutter Wu Mei Ling mit ihren Brüdern hinter zugezogenen Vorhängen mit improvisierten Utensilien heimlich weitertrainierte. Ein Schwert wurde zu einem Essstäbchen, ein Schild zu einem Umschlag…
Nach der Kulturrevolution wurde die chinesische Kampfkunst unter dem Begriff „Wushu“ beworben. Einfach ausgedrückt wurde auf Basis der chinesischen Kampfkünste etwas geschaffen und durch Gymnastik-Elemente erweitert, um daraus einen neuen „chinesischen Volkssport“ zu etablieren. Zu dieser Zeit durfte Kampfkunst nicht in privaten Schulen unterrichtet werden, sondern wurde ausschließlich an staatlichen Einrichtungen gelehrt und trainiert. In jeder Provinz gab es ein spezielles Wushu-Team, in dem nur die Top-Athleten der Provinz trainierten und später an der chinesischen Landesmeisterschaft teilnahmen. In diesen und den darauffolgenden Jahren hat auch unsere Sifu Mei Ling die Landesmeisterschaft und zahlreiche Titel gewonnen, unter anderem 1982 in Xi’an die allchinesischen Wushu-Meisterschaften in Südfaust (Nanquan). Zahlreiche ihrer Schüler waren ebenfalls erfolgreich, unter anderem der sogenannte „Nanquan-König/Südfaust-König“ Yang Shiwen (楊世文 kant. Jeong Sai Man), der neunmal in Folge Südfaust-Landesmeister war bis man ihm die Teilnahme untersagte.
Wu Mei Ling bei einem Turnier ca. 1982
Yang Shiwen – “Nanquan-König“
Guangdong Wushu Provinz-Team
Um nach der Kulturrevolution mit der Wushu-Konkurrenz mithalten zu können, lud man meine Mutter ein, gemeinsam mit Huang Daxiong (黃達雄 kant. Wong Dat Hung) das Guangdong Wushu-Provinzteam zu unterrichten. Huang Daxiong war mit seinen beiden Geschwistern als Jugendlicher bereits Schüler vom jüngeren Bruder (Wu Can 吳燦) meines Großvaters. Später wechselten sie zur Schule meines Großvaters, um ihr Kampfkunstwissen zu vertiefen. Noch vor der Kulturrevolution haben sie traditionelle Formen gelernt, Löwentanz bei chinesischen Festen vorgeführt und an jeder Menge Shows teilgenommen.
Huang Daxiong galt seinerzeit als ein Genie der chinesischen Kampfkunst. Unter anderem ist auf Basis seiner Arbeit die Grundlage für moderne Nanquan-Formen entstanden, welche heute eine der wichtigsten Kategorien im Wushu darstellt. Ich selbst hatte das große Glück, 2006 noch privat von ihm unterrichtet zu werden, bevor er 2007 leider an schwerer Krankheit starb.
Seine Einflüsse sind dennoch bis heute in unseren Formen zu sehen. Denn als Sifu Wu Mei Ling (吳美玲 kant. Ng Mei Ling) die Yap Mun Kuen/Jap Mun Kyun (入門拳) konzipierte wurden Vorschläge von Huang Daxiong mit integriert.
Die Schüler im Guangdong-Provinz Team haben zahlreiche Erfolge an Turnieren erziehlt. Viele von ihnen leiten im Ausland und China bis heute noch eigene Schulen wie z. B. Chen Weixiong in Australien, Xie Xiaojuan und Wu Yongmei in der Schweiz, Lu Zhanxiang in Jinzhu, Lin Yongsheng in Hongkong und Liang Yanhua in China, Hongkong und Macau. Des Weiteren hat sich Huang Mingjian, Sohn von Huang Daxiong, als Kampf-Choreograf und Regisseur in China und Hollywood einen Namen gemacht (Pacific Rim, Scott Pilgrim etc.)
Erste Wushu-Tournee in Europa 1985
1985 wurde die erste Kungfu-Tournee in Europa organisiert, welche gemeinsam von Reinhard Sander und meinem Vater Dr. Martin Rüttenauer ins Leben gerufen wurde. Sifu Wu Meiling und Huang Daxiong waren neben vielen weiteren Artisten mit dabei und traten in Belgien, Holland, der Schweiz und natürlich Deutschland auf und hatten mehrere Fernsehauftritte, z. B. in der ZDF-Sportschau. Unter anderem gab es eine spontane Aufführung auf der Marktstätte in Konstanz, welche glücklicherweise von unserem langjährigen Schüler Urs Krebs aufgenommen wurde.
Wu Runjin
He Yuhai und Sibak Wu Runjin
Runjin (吳潤錦, 1954-2007) ist der zweitälteste Bruder von Sifu Wu Mei Ling. Auch er lernte bei seinen Eltern von Kindesbeinen an Kungfu. Nach der Kulturrevolution arbeitete er mit Sportakrobaten zusammen, um Wushu in dieser Richtung weiterzuentwickeln. Seine Shows mit Wu Mei Ling und seinen Trainingskollegen hatten daher einen legendären Ruf. Runjin ließ sich bei einem Meister der chinesischen Medizin auf traditionelle Weise ausbilden und wurde später Sportarzt der Wushu-Gruppe von Guangzhou. Bereits in frühen Jahren hat er sein Wissen über Kungfu erweitert, indem er regelmäßig neue Stile lernte und mit seinem langjährigen Kindheitsfreund und Trainingspartner Lam Zeon Hei (林進熙), welchen ich Onkel Hei nenne, vertiefte. Besonders zu erwähnen sind hierbei das Zhaobao Taichi und eine Vielzahl an Tierstilen.
Von Guangzhou nach Deutschland
Bei den ersten unserer Kungfu-Trainingsreisen, welche Sifu Wu Meiling und Dr. Martin Rüttenauer veranstalteten, hat er maßgeblich das Trainingsprogramm mitentwickelt. Darunter fällt auch die Mittelstufen-Form der Familie Wu „Ng Si Zung Kap Kyun“ (吳氏中級拳), welche später von Reiseteilnehmern teilweise unter falschen Namen (z. B. Zum Kap Kuen) weiter unterrichtet wurde.
Ende der 80er Jahre lud ihn Sifu Wu Mei Ling nach Deutschland ein, um auch in ihrer Akademie zu unterrichten. Mit seiner fundierten Fachkenntnis und seiner humorvollen Art gelang es dem Arzt und Kampfkunstlehrer, in Deutschland und in der Schweiz einen großen und begeisterten Schülerkreis aufzubauen. Neben Kungfu, Taichi und Qigong unterrichtete er TCM und chinesische Teekunde. Mit Dr. Martin Rüttenauer leitete er mehrere Tee-Reisen und Qigong-Reisen nach China.
Wu Rungen
Sibak Wu Rungen
Der älteste Bruder von Sifu Wu Meiling ist Rungen (吳潤根 kant. Ng Jeon Gan) und seit mehreren Jahren auch die wichtigste Schlüsselperson für die Entwicklung unserer Schule. Als ältester Sohn von Großvater hat Rungen natürlich vieles miterlebt, sowohl vor der Kulturrevolution als auch während dieser. Seine aktive Zeit in der Kampfkunst hat nach Ende der Kulturrevolution jedoch aufgehört und ist über 20 Jahre lang fast schon in Vergessenheit geraten. Es war sogar so, dass nicht einmal mein Cousin aus Guangzhou von den Kampfkunst-Kenntnissen Rungens wusste. Glücklicherweise ist er wie ein wandelndes Lexikon und hat Geschichten, Bedeutungen, Anekdoten, Formen und vieles mehr parat.
Sibak Rungen hatte seit Kindesalter den Großteil seiner Zeit in die Kampfkunst gesteckt. Dabei beinhaltete sein Trainingsprogramm nicht nur das Hung Kuen Training, sondern auch den chinesischen Löwentanz, die chinesische Perkussion und vor allem die alte Kunst des Knochenrichtens (跌打正骨 kant. Dit Daa Zing Gwat). Er wurde also überwiegend im alten Wissen der Kampfkünste vor der Kulturrevolution unterrichtet und ausgebildet. An Turnieren vor der Kulturrevolution belegte er mit traditionellen Hung Kuen Formen wie Tiger-Kranich-Form (虎鶴雙形拳 kant. Fu Hok Seung Jing Kyun) und Fünter-Bruder-Acht-Trigramme-Stockform (五朗八卦棍 kant. Ng Long Baat Gwaa Gwan) stets die vorderen Plätze.
Wiederentdecktes Wissen der Familie Wu
Heute führt er eine Praxis für TCM in Lishui (里水) und spezialisiert sich auf die Kunst des Knochenrichtens und alte Tinkturen und Elixiere, welche aus Rezepten meiner Großeltern gemischt werden. 2008 bekam er gemeinsam mit weiteren Kampfkunst-Kollegen den Ehrentitel der „neuen zehn Tiger aus Foshan“.
Seit 2011 sind wir nun dabei sein Wissen zu dokumentieren und festzuhalten. Über ihn haben wir wieder zu vielen alten Formen und Geschichten gefunden, an die sich sonst keiner mehr erinnerte. Durch ihn konnten wir auch Kontakt zu weiteren Urgesteinen der Guangzhou-Kampfkunst-Szene aufbauen und uns mit ihnen austauschen. Dazu gehört u. a. ein wichtiger Schüler von Huang Daxiong, den ich nur Onkel Cheong nenne (何炳祥 kant. Ho Bing Ceong). Weil er sich seit Jahrzehnten nur auf wenige Formen konzentiert aber diese mit immenser Tiefe studiert, ist es wunderbar von ihm zu lernen.
Aus diesen verschiedenen Quellen haben wir nicht nur neue Formen gelernt, sondern bekamen auch Einblicke in unterschiedliche Variationen altbekannter Formen. Das gesammelte Wissen haben wir seitdem kontinuierlich in den Unterricht eingebaut und integriert, damit wir nicht nur die Tradition der Kampfkunst weiterführen, sondern auch den kulturellen Hintergrund vermitteln.
Die Brücke zwischen Alt und Neu
Über Jahrzehnte hinweg hat sich die Kampfkunst der Familie Wu weiterentwickelt und wurde kontinuierlich an zahlreiche, interessierte Schüler weitervermittelt. Unsere Schule schlägt die Brücke zwischen alter Kampfkunst und neuem Kampfsport. Durch das überlieferte Wissen können wir traditionelle Konzepte in einen modernen Kontext bringen. Wie wir nun heutzutage die Kampfkunst der Familie Wu fortführen und inwiefern wir diese Tradition weiterentwickeln, schreiben wir bald in einem separaten Artikel. Im Artikel Stammbaum der Familie Wu werde ich auch andere Teile unserer Familie beleuchten. Dann wird klar, dass uns die Kampfkunst bereits ein knappes Jahrhundert begleitet und sogar bis zum Anfang des 20. Jh. zurückreicht.
1 Kommentar
Christina Wu
Ein wirklich sehr informativer Beitrag